„An Erinnerungsorten wie diesen bekommen die Zahlen der Shoah einen Namen, ein Gesicht und eine Geschichte“

Studierende der Polizeiakademie Niedersachsen besuchen ehemaliges Ghetto Lodz und Vernichtungslager Kulmhof in Polen – Gespräch mit 98-jährigen Holocaust-Überlebenden Leon Weintraub


Nienburg/Berlin/Polen – Stille herrscht. Niemand sagt ein Wort, viele sind mit ihren Gedanken für sich. Nur der Wind, der leise durch die Bäume und über die Wiesen zieht, ist zu hören. Wir sind auf dem Gelände des ehemaligen Waldlagers Kulmhof am Ner (heute Chelmno, Polen). In diesem Vernichtungslager begann 1941 die maschinelle Ermordung der Jüdinnen und Juden und damit eine neue Stufe des Holocaust.

Dieser Ort ist ein Teil der emotionalen Bildungsreise der Polizeiakademie Niedersachsen vom 11. bis 17. Februar 2024, an der Studierende und Personal der Akademie teilnahmen. Der Polizeikommissaranwärter Guido Keck sagte im Nachhinein: „Im Waldlager war es eine Betonmauer, an welcher etliche Gedenktafeln der Hinterbliebenen der Opfer angebracht waren, welche mir dann letztendlich auch einige Tränen abverlangte. An Erinnerungsorten wie diesen bekommen die Zahlen der Shoah einen Namen, ein Gesicht und eine Geschichte.“

Ursprünglich war, wie im vergangenen Jahr, der Besuch der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel geplant. Im Frühsommer 2023 unterzeichnete die Polizei Niedersachsen eine Kooperationsvereinbarung mit der dortigen internationalen Holocaust-Gedenkstätte. Aufgrund des Angriffes der Terrororganisation Hamas und des anhaltenden Nahostkonflikts war dies jedoch nicht möglich. Alternativ wurde daher eine Bildungsreise nach Berlin und Polen organisiert, deren Inhalte maßgeblich durch den israelischen Kooperationspartner mitgestaltet wurden.

Zunächst führte die Reise nach Berlin, wo Anne Lepper und Julian Tsapir von der International School for Holocaust Studies in ihren Vorträgen und Workshops deutlich machten, was es hieß, zur Zeit des Holocaust zu leben, welches Leid die Menschen ertrugen und wie wichtig Erinnerungskultur aus jüdischer Perspektive für uns alle auch heute noch ist. In einem Grußwort unterstrich der eigens aus Hannover angereiste Niedersächsische Landesbeauftragte gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens, Prof. Dr. Gerhard Wegner, die Bedeutung der Bildungsarbeit.

Anschließend ging es weiter nach Polen. Den Teilnehmenden wurde durch die Reise in das Nachbarland ein tieferer Einblick in die Zeit des Holocaust gewährt. Bei den Besichtigungen des ehemaligen Ghettos in Lodz sowie des Vernichtungslagers Kulmhof machte der mitreisende (außerberufliche) Referent des Bildungswerkes Stanislaw Hantz, Roland Vossebrecker, die Schrecken und unmenschlichen Lebensbedingungen, die dort damals herrschten, mit Originalaufnahmen und Zitaten von Jüdinnen und Juden für alle nahezu erlebbar. Auch die Rolle der Polizei wurde thematisiert.

Ein besonderes, intensives und einprägsames Erlebnis war die Begegnung mit dem lebensfrohen 98-jährigen Zeitzeugen Dr. Leon Weintraub, Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande, der als Jugendlicher im Ghetto Lodz lebte und 1944 mit seiner Familie in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Weintraub, extra mit seinem Sohn aus Schweden angereist, um die Gruppe an den Ereignisorten zu begleiten, bezeichnet sich selbst als „Sieger“ und nicht als „Opfer“. Eindringlich und detailliert schilderte er, wie der Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen sein noch junges Leben völlig veränderte, wie er und seine Familie im Ghetto unter widrigsten Umständen zu überleben versuchten und am Ende ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Ein Ort, den seine Mutter nicht überlebte.

Sieben Tage dauerte die Bildungsreise, an denen die Teilnehmenden jeden Tag mit neuen Eindrücken konfrontiert wurden, die sie nachhaltig berührten. Für den Polizeikommissar Marvin Schories wird vor allem das Gespräch mit dem Shoah-Überlebenden in Erinnerung bleiben: „Seine bewegenden Schilderungen ließen uns wirklich beeindruckt und zugleich nachdenklich zurück.“ Marie Jacob, ebenfalls Studierende, verdeutlichte die Reise: „…welche Aufgabe wir als Polizei haben, an die Zeit zu erinnern und dafür in der heutigen Zeit eintreten, dass solch ein Ereignis sich nicht wiederholt.“

Ein Fazit, dem sich der Direktor der Polizeiakademie Niedersachsen, Carsten Rose, nur anschließen kann: „Das Geschehene ist heute nur schwer vorstellbar und greifbar. Wir alle kennen die Geschichte aus der Schule. Aber erst, wenn man diese Orte besucht, sie mit seinen eigenen Augen sieht und sich mit Zeitzeugen austauscht, können wir zumindest ansatzweise verstehen, was den Menschen damals Schreckliches widerfahren ist. Gleichzeitig verdeutlicht dies, welche große Verantwortung gerade wir als Polizistinnen und Polizisten in der heutigen Zeit für die Gesellschaft und für unsere wehrhafte Demokratie tragen.“

Dass die Polizei gerade in der heutigen Zeit für den Schutz aller Menschen einstehen und antisemitisches Handeln, Ausgrenzung und Fremdenhass frühzeitig erkennen muss, ist allen Teilnehmenden der Reise noch einmal sehr deutlich geworden. Durch gelebte Kooperationen wie der mit Yad Vashem und einer regelmäßigen auch selbstkritischen Reflektion des Geschehenen wird dazu beigetragen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.

Hintergrund

Die internationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, Israel, verfolgt die Aufgabe, bekannte Informationen über die Shoah zu dokumentieren und Forschungen durchzuführen. Mit dem Ziel, das ganze Ausmaß der Shoah zu verdeutlichen, wird im Museum der Gedenkstätte vor allem die Opferperspektive dargestellt. Auf einer Fläche von ca. 18. Hektar befinden sich mehrere Museen, Denkmäler sowie Schulungs- und Forschungszentren. Die Gedenkstätte wird jedes Jahr von etwa 1 Mio. Menschen besucht. Mit der Unterzeichnung eines Kooperationsvertrages im Jahr 2023 haben die Polizei Niedersachsen und vor allem die Polizeiakademie Niedersachsen die Möglichkeit, den Demokratiegedanken bei Studierenden noch weiter in den Fokus zu rücken und greifbar zu machen. Der Besuch der Gedenkstätte ermöglicht eine persönliche Erfahrung mit Antisemitismus und seinen Folgen.


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In Mitten von Bäumen, Wiesen und Blumen erinnert diese Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Kulmhof an die Gräueltaten der NS-Zeit und den Beginn des Holocausts.
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Neben der schlicht anmutenden Kirche stand bis 1943 ein Herrenhaus, in dem die erste stationäre Vernichtungsanlage entstanden ist. Später wurde dahinter das Vernichtungslager errichtet.
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Hat überlebt: Zeitzeuge und Shoah-Überlebender Dr. Leon Weintraub erzählt seine Lebensgeschichte, vom Überfall der Wehrmacht auf Polen, dem Leben im Ghetto Lodz bis zur Deportation ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau.
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Die Arbeitskarte von Leon Weintraub von 1943.
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Machte mit Fotos und Zitaten das Leid im Ghetto und Vernichtungslager nahezu erlebbar: Stadtführer Roland Vossebrecker.
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Im Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ stehen Studierende der Polizeiakademie vor einer Wand mit Karteikarten aus den Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft gegen ehemalige Mitarbeitende des Reichssicherheitshauptamtes (1960er).
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Momentaufnahme: Teilnehmende und Workshop-Leitende der Bildungsreise der Polizeiakademie Niedersachsen in den Räumlichkeiten der Landesvertretung des Saarlandes in Berlin.

Artikel-Informationen

erstellt am:
23.02.2024

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